Untreue in Beziehungen: Nicht nur unglückliche sind betroffen
Auch in glückliche Beziehungen kommt Untreue vor, denn nicht immer muss erst eine Krise der Anlass fürs Fremdgehen sein. Woran liegt das? Wie können sich Paare davor schützen? Ein Experte erklärt.
Immer wieder kommt es zu überraschenden Trennungen bei Paaren. Aber war das meist letztlich doch schon zu erwarten, weil es bereits gekriselt hat? Okay, häufig ist der Grund, dass einer von beiden innerhalb der Beziehung fremdgegangen ist. Aber ist die Voraussetzung dafür wirklich immer ein schon vorhandener Knacks in der Partnerschaft?
Nein, so etwas kommt auch in einer gut laufenden Partnerschaft vor, sagt Eric Hegmann. Und gar nicht mal so selten: "Auch glückliche Partner*innen gehen fremd, nicht immer ist eine Beziehungskrise der Auslöser", so der Paarberater und Parship-Coach. Der Beziehungsexperte bietet in seiner Modern Love School viele Online-Kurse rund um Beziehungsthemen an. Warum auch eine glückliche Beziehung durch Untreue gefährdet sein kann, erklärt er im Interview mit BILD der FRAU.
Experten-Interview: Untreue kommt in den glücklichsten Beziehungen vor
BILD der FRAU: Warum sind auch glückliche Beziehungen nicht vor Untreue gefeit?
Eric Hegmann: Die amerikanische Therapeutin Esther Perel hat viele Jahre geforscht, warum Menschen untreu werden und ihre Ergebnisse in mehreren Büchern veröffentlicht. Zwei wichtige Erkenntnisse haben hier den Blick auf Untreue revolutioniert.
- Erstens: Auch glückliche Partner*innen werden untreu. Nicht so häufig wie unglückliche, aber der Satz "in der Beziehung stimmte etwas nicht" ist nicht allgemeingültig.
- Und zweitens: Wenn es tatsächlich einen Anlass zur Untreue in der Beziehung gibt, dann ist es nahezu immer Distanz in irgendeiner Form zwischen den Partner*innen, die dazu führt, dass die vermisste Nähe woanders gesucht wird.
"Früher gingen wir fremd, weil Liebe und Leidenschaft in der Ehe nicht vorgesehen waren. Heute gehen wir fremd, weil unsere Ehe die Liebe, die Leidenschaft und die ungeteilte Aufmerksamkeit nicht bietet, die wir uns von ihr versprachen", sagt Esther Perel und betont dabei, dass der Wunsch nach mehr oder neuen Erfahrungen eben nicht damit gleichzusetzen ist, dass die Beziehung unglücklich wäre.
Laut Statistik lässt sich in jeder zweiten Beziehung mindestens einer der Partner*innen früher oder später auf eine sexuelle oder emotionale Affäre mit einer dritten Person ein ... Sind die wirklich alle so richtig unglücklich mit ihrer Beziehung? Nein.
Wie erleben Sie das in Ihrer Eigenschaft als Paarberater?
In der Paartherapie höre ich tatsächlich beim Thema Seitensprung häufig: Ich liebe meine Partnerin oder meinen Partner, ich würde sie oder ihn niemals verlassen, aber gleichzeitig sehne ich mich nach dem Gefühl, begehrt zu werden. Ich genieße die Vertrautheit und Geborgenheit zu Hause, ich kann aber nicht gleichzeitig meine Rolle als verlässliche*r Partner*in erfüllen und die/der abwechslungsreiche, fantasievolle und unermüdliche Liebhaber*in sein.
Beziehungen müssen heute das leisten, wozu früher ein ganzes Dorf nötig war
Dass unsere Beziehungen heute Geborgenheit und Leidenschaft, Sicherheit und Romantik vereinen sollen, ist ein gänzlich neuer Gedanke. Wir treffen heute einen Menschen – und der soll dann für all das zuständig sein, was früher ein ganzes Dorf leistete. Hinzu kommt: Unsere Lebenserwartung ist so hoch wie nie. Solch lange Beziehungen auf Augenhöhe, gleichberechtigt und erfüllend in allen Bereichen unserer Bedürfnisse, hat es so noch nicht gegeben.
Es ist also kein Wunder, dass Paare beim Experimentieren und Aushandeln an neue Herausforderungen kommen. Wir wünschen uns heute sexuelle Erfüllung bis ins hohe Alter und haben Hilfsmittel, die dies auch möglich machen. Wir leisten hier Pionierarbeit, das gab es bisher einfach noch nicht. Wenn Menschen also denken, sie scheitern als Paar, könnten sie versuchen zu denken, wir sind als Paar NOCH nicht da, wo wir hinwollen. Wir sind als Paar NOCH auf dem Weg und nicht bereits von ihm abgekommen.
Fremdgehen ist meist ja schon der nächste Schritt – was geht davor in der Person vor?
Wenn es um Gründe fürs Fremdgehen geht, lassen sie sich überwiegend mit Distanz und Angst vor dem Verlust von Nähe zusammenfassen. Sexualtherapeut*innen sagen oft: Männer suchen Nähe durch Sex, Frauen benötigen Nähe für Sex. Das heißt, auch wenn Nähe in diesem Gedankenmodell unterschiedlich definiert wird: Es geht um Nähe! Fehlen Nähe und Bindung in der Beziehung, wird beides an anderer Stelle gesucht. Im Umkehrschluss lässt sich sagen: Distanz zwischen den Partner*innen schafft die Voraussetzung, dass das Bedürfnis nach Nähe mit anderen entsteht.
Distanz ist oft ein teuflischer Kreislauf. Ein nicht verarbeiteter Konflikt, ein besonders bedauerliches Ereignis wie ein böser Streit, aber auch das Gefühl, weniger wichtig zu sein als das Smartphone oder die Lieblingsserie, führen dazu, dass sich ein*e Partner*in abwendet. Das wiederum hat oft zur Folge, dass andere Personen aus dem Freundeskreis oder am Arbeitsplatz die Bedürfnisse nach Anerkennung, nach Wertschätzung oder überhaupt Wahrnehmung übernehmen. Denn Bedürfnisse, die in der Beziehung nicht erfüllt werden, wollen mittel- oder langfristig eben befriedigt werden – außerhalb der Beziehung.
Distanz in der Beziehung ist ein guter Nährboden für eine Affäre
So entwickelt sich eine Beziehung außerhalb der Beziehung, die meist geheim gehalten wird. Diese Geheimhaltung führt zu noch mehr Distanz zwischen den Partner*innen und zu einer Exklusivität in der Außenbeziehung. Sie wird dadurch aufgewertet – und irgendwann beginnt in Gedanken der Vergleich: "Er/sie versteht mich viel besser als mein*e Partner*in." Kommt nun noch Sympathie und sexuelle Anziehungskraft hinzu, sind die Voraussetzungen für einen Seitensprung oder eine Affäre gegeben.
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Tauschen Paare sich im Zweifelsfall zu wenig darüber aus?
Zumindest in der akuten Situation: Ist die Distanz schon da, werden die Partner*innen leider kaum über die Versuchung sprechen – dabei wäre nun der Zeitpunkt gekommen, über nicht erfüllte Bedürfnisse zu reden und zu verhandeln. Verpassen die Partner*innen diesen Moment, steigt das Risiko, dass die Beziehung am Ende ist – oder zumindest in Frage gestellt wird.
Drei Fragen und ihre Antworten sind dafür verantwortlich, dass Commitment und Treue möglich sind:
- Bist du für mich da? Kann ich mich auf dich verlassen?
- Bist du für mich ansprechbar? Kann ich mit dir über meine Gefühle reden?
- Hörst du mir zu? Nimmst du mich wahr und kannst du mit mir mitfühlen?
Gestörte Bindung zwischen Partner*innen kann viele Ursachen haben
Veränderungen wie eine Krankheit einer Partnerin oder eines Partners haben weitreichende Auswirkungen, aber auch die täglichen Konflikte, Argumentationen auf Augenhöhe, zugewandte oder abgewandte Kommunikation und der Umgang mit Problemen, für die es keinen Kompromiss gibt, der beide Partner*innen befriedigt zurücklässt. Ist die Bindung zwischen den beiden gestört, entsteht automatisch Distanz. Und da sich jeder Mensch Nähe wünscht, wird dieses Bedürfnis an anderer Stelle erfüllt. Nicht immer mit einer Affäre: Auch Rückzug oder Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen stellen Versuche dar, die Distanz zu kompensieren oder nicht mehr zu spüren.
Was können Paare tun, damit es nicht zum Fremdgehen kommt?
Die beste Chance, einer Affäre vorzubeugen, haben Paare, die sich aufeinander konzentrieren und ihre Beziehung im Alltag pflegen, z. B. durch:
- Zugewandte Kommunikation,
- Wertschätzung der Andersartigkeit der Partnerin bzw. des Partners,
- Umgang mit unlösbaren Konflikten lernen und
- Date Nights!
Dass aus einer Affäre eine dauerhafte, glückliche Beziehung wird, ist übrigens extrem selten der Fall. Die amerikanische Therapeutin Shelly Glass und der Paarforscher John Gottman stellten fest: Nur aus einem Bruchteil von Affären wird eine neue Beziehung – und 75 Prozent aller Ehen, die aus Affären entstehen, werden geschieden. Optimistische Aussichten sehen anders aus. Aber natürlich gibt es Paare, die in ihren Beziehungen sehr unglücklich sind, sich als Affären-Partner*innen finden und später miteinander glücklich werden. In der Liebe ist alles möglich – es ist nur nicht alles gleich wahrscheinlich.
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