Liebe vs. Selbstverlust

Nicht nur noch wir: So bleibst du in deiner Beziehung du selbst

Eine junge Frau mit langen, vom Wind verwehten Haaren umarmt nachdenklich einen Mann in einem dunklen Shirt bei warmem Sonnenlicht.
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Wenn du dich in deiner Beziehung fragst, ob du eigentlich noch du selbst bist, solltest du dringend der Frage nachgehen, wie du dir selbst treu bleiben kannst.

Wann ist das WIR zuviel und das ICH zu wenig in einer Beziehung? Wieviele Kompromisse sind okay? Eine Expertin erklärt, wie du dir selbst treu bleibst.

Zu Beginn einer Beziehung können wir von der Partnerin oder dem Partner nicht genug kriegen, lassen uns voll und ganz auf diese neue Person im Leben ein. Logisch, dass die beste Freundin, der Kumpel da mal zurückstecken müssen. Aber was, wenn das zum Dauerzustand wird, das geliebte Hobby auf der Strecke bleibt, der letzte Besuch bei der Familie ewig her ist?

Mehr Selbstbewusstsein: Diese 7 Gedanken solltest du meiden

Wer sich in der Partnerschaft zu sehr verändert, Aktivitäten aufgibt, Freundeskreise vernachlässigt, kurz: nur noch der oder die neue Liebste zählt, läuft Gefahr, sich aufzugeben. Dabei ist es so wichtig, sich in einer Beziehung selbst treu zu bleiben! Was ist dann zu tun? Anne Seidel ist ausgebildete Mindset-Coachin und Speakerin. Mit ihren Online-Kursen will sie Frauen in ihrem Selbstbild stärken und hilft ihnen, selbstbestimmt durch Leben zu gehen. Wie man sein Selbst in Beziehungen bewahrt, verrät die Frauenempowerment-Expertin im Interview.

So bleibst du dir in einer Beziehung selbst treu: Tipps von einer Expertin

BILD der FRAU: Liebe Frau Seidel, bin ich mir selbst treu in meiner Beziehung? Woran merke ich, ob das überhaupt (noch) der Fall ist?

Eine ältere Frau mit kurzen, blonden Haaren und orangefarbenem Kleid lächelt freundlich, gestützt auf ihre Hände, vor moderner Wanddekoration. | © privat
Foto: privat
Anne Seidel, Mindset-Coach und Speakerin

Anne Seidel: Stellt sich hier nicht zuerst die Frage: Bin ich mir je treu gewesen, lebe ich authentisch? Was heißt es eigentlich genau, sich treu zu sein? Man verbindet Ehrlichkeit, Loyalität, Respekt, Authentizität und Selbstbewusstsein damit. Viele leben ihr Leben nach eingeprägten Glaubenssätzen und sind der Meinung, dass dies in Ordnung ist. Sie kennen es nicht anders. Diese Personen sind sich in gewisser Weise treu – und doch nicht. Hierfür braucht es ein Update ihres Unterbewusstseins, damit sie ihre Werte finden und erkennen, dass sie sich selbst nicht treu sind.

Dies ist aber ein anderes Thema und um nicht abzuschweifen, gehen wir davon aus, dass ein authentisches Leben geführt wurde, bis eine Veränderung – neue Beziehung – ins Lebens der Person getreten ist. Wir kennen das doch alle: Wenn man frisch verliebt ist, ist es oft schwierig, sich nicht für den Partner zu verbiegen. Wer das aber dauerhaft für den anderen tut, bleibt sich selbst nicht mehr treu.

Nur weil man aber das Leben miteinander teilt, muss man sich nicht bei allen Interessen und Vorlieben einig sein. Wer seine Bedürfnisse ständig hinten anstellt, nicht mehr ausspricht, was einen stört, nicht mehr authentisch ist, hat sich selbst verloren, und es kann zu großen Schwierigkeiten – vielleicht nicht direkt, aber über die Zeit hin – kommen. Es ist leichter gesagt als getan, denn man möchte seinen Partner ja nicht kränken.

Soll ich in einer Beziehung Kompromisse eingehen?

Prinz Philip soll einmal gesagt haben: "Toleranz ist der Bestandteil jeder glücklichen Beziehung." Dem stimme ich vollkommen zu. In einer Beziehung kommt man gar nicht darum herum, Kompromisse einzugehen. Wichtig dabei ist, dass man die Interessen sowie die Marotten des Partners ernst nimmt, auch wenn sie für einen selbst noch so suspekt erscheinen. Ratsam ist es, abschätzen zu lernen, wann es Sinn macht, dem Partner nachzugeben oder nicht.

Ein ungesunder Kompromiss ist wie eine Niederlage und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Wenn immer nur einer bereit ist, Kompromisse einzugehen, führt langfristig der Mangel an Ausgewogenheit zu Konflikten und Streit. Diese Beziehung wird am Ende nicht überleben. Man soll sich in einer Beziehung nicht opfern, um sie aufrechtzuerhalten – es geht vielmehr darum, auf gesunde und positive Weise Kompromisse einzugehen. Jeder soll sich geschätzt und erfüllt bzw. verstanden fühlen.

Natürlich gibt es Situationen, in denen man ohne ein schlechtes Gewissen kompromisslos sein darf. Hier handelt es sich um Kernwerte wie zum Beispiel Politik, Religion, um Persönlichkeitsrechte wie Selbsbestimmung und Selbstwahrnehmung. Der Schlüssel für eine glückliche Beziehung liegt darin, eine gemeinsam funktionierende Basis zu schaffen, in der eine Beziehung ruht.

Ehrlich zu sich selbst sein, auch wenn das unbequem sein kann

Wie kann ich mein eigenes Ich bewahren? Gibt es Tipps dafür?

Man selbst zu sein heißt, sowohl die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Einstellungen selbstbewusst zu vertreten als auch auf den Partner einzugehen und zuzuhören. Authentizität und Ehrlichkeit werden eine Beziehung stärken. Zugegeben, es ist oft ungemütlich, die Wahrheit auszusprechen, doch wenn man offen zueinander ist und über das spricht, was einen stört, wirkt es sich auf Dauer positiv auf das Selbstbewusstsein aus und wird die Integrität in der Beziehung stärken.

Darum mein guter Rat: authentisch bleiben! Bevor ich Ihnen ein paar Tipps an die Hand gebe, wie Sie in der Partnerschaft authentisch bleiben können, sollten Sie sich ein paar grundlegende Fragen ehrlich beantworten:

  • Warum entfremde ich mich von mir selbst?
  • Verstecke ich meine wahren Gedanken, weil da eine Angst vor Ablehnung vorhanden ist?
  • Wollen Sie es Ihrem Partner immer recht machen? Wenn ja, warum?

Hier einige Tipps, wie Sie sich in einer Beziehung treu bleiben können:

  1. Seien Sie ehrlich: Sprechen Sie immer offen und ehrlich an, was Sie sich wünschen und was Sie möchten. Es ist einfach. Trauen Sie sich.
  2. Reflektieren Sie: Sie können nur authentisch sein, wenn Sie wissen, was in Ihrem Kopf vorgeht. Lernen Sie die eigenen Stärken und Schwächen kennen und setzen Sie Stärken gezielt ein. Beobachten Sie Ihre Gewohnheiten und vertrauen Sie auf Ihre Gefühle, denn die verraten instinktiv, was Sie von einer Sache halten oder wie Sie in einer bestimmten Situation reagieren sollten.
  3. Seien Sie konsequent: Wenn sich Ansichten auf bestimmte Dinge im Laufe der Zeit verändern werden, Ihre Persönlichkeit sich weiterentwickelt, sollten Sie an Ihren Werten festhalten. Haben Sie einmal eine Priorität gesetzt, eine Entscheidung getroffen, sollten Sie dazu stehen. Nehmen Sie sich genug Zeit, um Ihre Werte herauszufinden, reden Sie dann nicht nur davon, sondern leben und handeln Sie nach Ihren Werten, um glaubwürdig zu sein und auch zu bleiben.
  4. Legen Sie den Fokus nicht zu sehr auf sich: Sie riskieren Ihre Partnerschaft, wenn Sie das tun und nicht mit dem Fokus des Partners im Einklang sind. Seien Sie also aufmerksam, achten Sie auf Ihren Partner, gehen Sie auf dessen Wünsche ein, aber verbiegen Sie sich nicht.

Es ist übrigens auch eine Frage der persönlichen Integrität und des Selbstrespekts, sich selbst treu zu bleiben. Dies beinhaltet, für seine Werte einzutreten und nicht den Anforderungen und Erwartungen anderer Menschen nachzugeben. Man selbst zu sein führt zu Unabhängigkeit, Glück, Selbstvertrauen und zu einem erfüllten Dasein.

Das WIR ist schön, aber es muss immer Platz für ein ICH geben

Welche Kardinalfehler sollte man vermeiden?

Wenn man den Traumpartner gefunden hat, sollte man die Beziehung pflegen – je länger sie andauert, desto mehr muss an ihr gearbeitet werden. Hier ist dann unbedingt zu beachten, sich selbst nicht als Individuum zu verlieren. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich in einer Partnerschaft komplett anzupassen. Natürlich ist das WIR schön, es muss aber immer Platz für ein ICH geben. In erster Linie ist es Ihr Leben – das, was Sie möchten, sollten Sie auch umsetzen. Am Ende sollten Sie nicht dasitzen und bereuen, dass Sie sich wegen des Partners verbogen haben – was zudem vielleicht nie von Ihnen erwartet wurde!

Bevor Sie feststellen, dass Sie nicht waren, wer Sie eigentlich sind: Fünf Dinge, die Sie trotz der Liebe nicht aufgeben sollten:

  1. Träume: bewahren und umsetzen
  2. Soziales Netz: Freundschaften aufrecht erhalten
  3. Unabhängigkeit: gerade auch in finanzieller Hinsicht
  4. Stil: daran festhalten, auch wenn der Partner ihn nicht mag
  5. Werte: Überzeugungen und Ideale nicht über Bord werfen

Was, wenn mein*e Partner*in und ich unterschiedlich ticken, was bestimmte Themen angeht?

Dass Partner unterschiedlich sind, ist grundsätzlich gar nicht schlimm. Bekanntlich ziehen sich Gegensätze an – allerdings kommt es darauf an, in welchen Punkten sie sich unterscheiden. Auch Konflikte sind normal, sogar wichtig. Artet aber jedes Gespräch in Streit aus und es kommt zu keinem gemeinsamen Ergebnis, läuft etwas schief, es kommt die Überlegung auf, dass man eventuell einfach nicht zusammen passt. Ist die Balance verschwunden oder sogar nie vorhanden gewesen, kann die Beziehung nur in eine Richtung laufen – nämlich abwärts.

Nicht immer sind Themen so einfach mit einem Kompromiss zu lösen. Es gibt komplexe Themen wie Geld, Lebensentwürfe sowie Unterschiede in der Ideologie. Das kann eine große Herausforderung in Bezug auf Kompromisse darstellen, da diese Themen ernst genommen werden müssen. Ihr Partner kann triftige Gründe haben, warum er diese Ansicht nicht mit Ihnen teilt. Für ihn gibt es womöglich andere Werte, die ihn authentisch machen. Der nötige Freiraum, gegenseitiger Respekt und Achtsamkeit sowie der gewisse Grad an Kompromissen lässt auch in einer Beziehung mit unterschiedlichen Gesichtspunkten ein Zusammenleben zu, wenn man akzeptiert, dass einige Aspekte des Partners so sind, wie sie sind. Schließlich will man ja auch ein authentisches Gegenüber, oder nicht?

Gut mit sich selbst umgehen – nur so kann man bei sich selbst bleiben

Können es Paare überhaupt schaffen, zum jeweiligen Selbst zurückzufinden, wenn sie es schon zu sehr aufgegeben haben?

In einer Welt, in der so viel anders scheint als es ist, fällt es uns schwer, so zu sein, wie wir sind. Wir hetzen uns selbst, wollen cool sein und lassen uns in vorgefertigte Lebensabläufe pressen. Hier sterben aber unsere wahren Bedürfnisse, Träume, unsere Selbstliebe – wir geben unser Selbst auf. Wir opfern uns dem "Angepasstsein". Auch in der Beziehung passiert das. Gründe dafür können sein, sich das Leben einfacher zu machen, es nicht anders vorgelebt bekommen zu haben, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Alles Punkte, wo das eigene Ich – Authentizität und Werte – nicht mehr lebt. Um die eingehende Frage zu beantworten: Ja, man kann zu seinem Ich zurückfinden. Wie? Hier sind Wege, die dabei helfen können – gehen müssen Sie sie jedoch selbst

  • Sorgen Sie liebevoll für sich, beschenken Sie sich selbst, sprechen Sie mit sich. Die Basis für eine gute Beziehung, auch mit sich selbst, ist Achtsamkeit. Machen Sie langsamer, atmen Sie tief durch und hören Sie in sich hinein.
  • Geben Sie sich Zeit für das, was Sie genießen, für Dinge, die Sie leidenschaftlich gerne tun. Vergessen Sie dabei die Anforderungen, die an Ihnen reißen und Sie verbiegen. So kann Ihr Ich strahlen.
  • Seien Sie geduldig mit sich selbst. Setzen Sie sich nicht ständig neue Ziele, peitschen Sie sich nicht immer selbst an, machen Sie Schritt für Schritt, nur dann können Sie glücklich sein.
  • Lassen Sie Altes bzw. Vergangenes los. Beachten Sie aber, dass alles, was Sie erlebt haben, Sie zu dem gemacht hat, was Sie heute sind. Und das ist gut so! Alles hat seinen Platz, und zwar in der Vergangenheit: etwa Beziehungen zu Menschen, die Sie klein halten oder aufhalten wollen. Selbstzweifel, Vorwürfe, Reue: alles zu schweres Gepäck, mit dem Sie nicht weiterkommen. Bedenken Sie: Nur Sie selbst können die Last entfernen oder lindern.
  • Stehen Sie für sich ein. Sie sind ein wertvoller Mensch, der es verdient hat, geachtet und respektiert zu werden. Kämpfen Sie für sich, wenn ein Kampf notwendig ist. Und vor allem: Kämpfen Sie für Ihre Träume. Lassen Sie sich die nicht ausreden.
  • Verfolgen Sie Ihre Lebensaufgabe, Ihre Bestimmung. Das macht Sie nicht wertvoller als Mensch – trotzdem ist es wichtig, sie zu kennen und verfolgen. Nur so werden die größten Kräfte, das hellste Licht, das Wahrhaftiges in Ihnen freigesetzt.

Dieser Weg, zurück zum Selbst, wird eine geraume Zeit in Anspruch nehmen. Das geht nicht von heute auf morgen. Das braucht Ausdauer, Geduld und den ganz starken Wunsch, wieder zu sich zurückzufinden. Rückschläge oder Hindernisse dürfen Sie nicht davon abhalten. Diese Wege haben Gültigkeit für Sie – wollen beide innerhalb der Beziehung zu ihrem Selbst zurückfinden, entstehen auch zwei verschiedene Wertevorstellungen zweier authentischer Personen. Hier sind wir dann wieder bei der vorherigen Frage: Was, wenn ich und mein Partner unterschiedlich ticken.

Vor einem Gespräch unbedingt an sich selbst arbeiten

Was raten Sie Paaren, bei denen sich eine*r zu verlieren droht? Oder gar beide?

Zusammensetzen, viel reden und dabei die Wünsche offen darlegen. Auf keinen Fall unvorbereitet in das Gespräch gehen. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, was Sie bei dem Gespräch erreichen wollen, was für Punkte Ihnen wichtig sind und wo Sie sich verbiegen. Sie müssen sich selbst kennen, vielleicht sogar erst wieder kennenlernen. Das erfordert im Vorfeld viel Arbeit.

Ziehen Sie auch in Betracht, dass der Fehler in der toxischen Beziehung liegt. In diesem Fall ist es ratsam, sich Rat bei Außenstehenden einzuholen. Sprechen Sie mit Menschen, denen Sie vertrauen, oft haben dritte Personen einen anderen Blickwinkel auf die Situation.

Was tun, wenn die Selbstaufgabe bis hin zu Abhängigkeit und Verlustangst führt?

Liebe und Hingabe sind etwas Wundervolles, doch manchmal verliert man sich in eine emotionale Abhängigkeit, aus der man schwer wieder herausfindet. Hier sind Frauen öfter betroffen als Männer. Diese übermäßige einseitige Abhängigkeit, die bis zur völligen Selbstaufgabe führen kann, liegt an einem geringen Selbstwertgefühl. Sie leben in der permanenten Angst, vom Partner verlassen zu werden und allein im Leben nicht zurechtzukommen. Diese Persönlichkeitsstörungen, die in der Vergangenheit begründet waren, führen zu übertriebenem Klammern und zur Unterwerfung. Oft geraten diese Frauen an narzisstische Männer und werden von ihnen unterdrückt. Hier wird die Partnerin klein gehalten und manipuliert.

Eine solche ungesunde Beziehung, die Frauen oft in die Selbstaufgabe zwingt und sie emotional abhängig macht, bedarf dringend einer therapeutischen Behandlung. Wenn aber ein gegenseitiger Austausch auf Augenhöhe machbar ist, kann es die Beziehung neu beleben. In diesem Fall wäre die emotionale Abhängigkeit nicht krankhaft, sondern ein Teil innerhalb der Beziehung, der aus dem Gleichgewicht geraten ist – nämlich der, dass Sie Ihre Eigenständigkeit aufgegeben haben. Und die können Sie sich zurückerobern!

→ Mehr über Anne Seidel erfährst du hier.

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