Fremdgehen verzeihen? Diese Fragen entscheiden, ob ihr noch eine Chance habt

Zu erfahren, dass die Partnerin oder der Partner eine Affäre hat, ist demütigend. Das Fremdgehen zu verzeihen, daran ist im ersten Moment nicht zu denken. Mit etwas Abstand ist es aber möglich: wie, das verrät ein Experte.
Fremdgehen zu verzeihen, ist ein Prozess. Der Paar- und Sexualtherapeut Ulrich Clement ist sich sicher, dass seelische Wunden Selbstheilungspotential haben. Schafft es die oder der Betrogene, das Fremdgehen zu verzeihen, kann das für das Paar auch der Anfang von etwas Neuem sein, das der Realität und den Bedürfnissen der Partner*innen besser entspricht.
Fremdgehen verzeihen: Vorwurf – Gegenvorwurf
Schlafstörungen, Albträume, Entwertungsgefühle und Wutausbräuche – für betrogene Partner*innen bricht eine Welt zusammen, wenn sie erfahren, dass ihr Vertrauen missbraucht und der Treueschwur gebrochen wurde. Das Fremdgehen zu verzeihen, ist in diesem Gefühls-Chaos nicht möglich.
Eine häufige Reaktion auf das Geschehen sind Vorwürfe. Schließlich fühlt sich die/der Betrogene als Opfer, dem Unrecht getan wurde. Aber auch der untreue Part versucht unter Umständen geltend zu machen, dass sie bzw. er abgelehnt und in fremde Arme getrieben wurde. Vorwurf auf Gegenvorwurf wechseln sich ab.
Ulrich Clement: "Wie berechtigt die Vorwürfe auch sein mögen – wenn sich ein Partner auf Vorwürfe festlegt und nichts anderes zulässt, verwehrt er den Blick auf die Zukunft." Denn Vorwürfe sind immer vergangenheitsorientiert. Mit diesem Verhalten ist es unmöglich, das Fremdgehen zu verzeihen.
Abenteuer oder Sicherheit?
Eine Affäre erschüttert eine Beziehung in ihren Grundfesten. Manche Paare stehen unter Umständen vor dem Dilemma, dass ihre Beziehung nicht alles gleichzeitig leisten kann: Sicherheit und Geborgenheit auf der einen, Abenteuer und Aufregung auf der anderen Seite.
Mit diesem Widerspruch sind übrigens beide Partner*innen konfrontiert. Paartherapeut*innen nennen das auch die "Monogamie-Falle". Häufig geht Sicherheit vor Abenteuer. Ist der Preis für die Sicherheit und die damit gehaltene Treue jedoch zu hoch, kann es zum Seitensprung kommen, ob mit jemandem aus dem Kolleg*innen-Kreis, beim Feiern oder auch im Urlaub, und dann manchmal auch zum Ende der Beziehung.
Nach dem Fremdgehen: Hat die Beziehung noch eine Chance?
Fakt ist: Der unschuldige Zustand vor der Tat kann nicht wiederhergestellt werden. Der Schritt in die Zukunft braucht Mut. Die Entscheidung, ob das Fremdgehen verziehen und der Beziehung eine neue Chance gegeben werden kann, setzt voraus, dass die Partner*innen ihre Situation reflektieren. Dazu können sie sich folgende Fragen stellen:
- Was finde ich an meiner Partnerin/meinem Partner heute attraktiv?
- Würde ich sie/ihn heute noch einmal heiraten?
- Von welchen überholten, schlechten Gewohnheiten sollten wir uns trennen?
- Welche Art Beziehung möchte ich mit ihr/ihm?
- Welchen Alltag will ich?
- Welche neuen Verabredungen wollen wir treffen?
"Um zu sehen, ob sich aus der Krise eine Chance machen lässt, braucht es ein Verständnis des Übergangs vom quälenden alten Zustand zum neuen erfreulicheren und zukunftsfähigen Zustand", erklärt Ulrich Clement.
Ganz wichtig: Vertrauen aufbauen, aber langsam
Wer überlegt, das Fremdgehen verzeihen zu können, stellt sich möglicherweise auch die Fragen:
- Wie soll ich dir nach all dem noch vertrauen?
- Wie kann ich jemals wieder sicher sein?
- Wie lässt sich verlorenes Vertrauen wiedergewinnen?
Vertrauensbildenden Maßnahmen, die das Handeln der/des untreuen Partnerin/Partners transparent machen, steht Ulrich Clement skeptisch gegenüber. Seiner Ansicht nach kann Vertrauen nur teilweise erworben werden. Vertrauen wird in erster Linie gegeben und ist damit zukunftsorientiert.
"Wenn ich völlige Transparenz erwarte, wenn ich meiner Partnerin bzw. meinem Partner erst dann vertraue, wenn ich alles von ihr/ihm weiß, ist Vertrauen überflüssig", erklärt der Experte. "Wenn ich einer Person vertraue, muss ich damit leben, dass ich einiges, womöglich relevantes Wissen nicht habe."
Ein Treuetest für den Drang nach Gewissheit kann so nämlich auch nach hinten losgehen.
Fremdgehen verzeihen: viele Gespräche führen
Die/der Betrogene entscheidet nicht nur, ob sie/er bereit ist, wieder Vertrauen zu geben, sondern ist auch in der stärkeren Position, weil sie/er die Moral auf der eigenen Seite hat. Die untreue Person hat gegen eine – möglicherweise auch unausgesprochene – Treue-Regel verstoßen. Es ist die Entscheidung der betrogenen Person, sie aus der "Schuld" zu entlassen oder nicht.
Damit das Verzeihen des Fremdgehens wirklich funktioniert und die Beziehung eine neue Chance erhält, darf die betrogene Person nicht in ihrer Kränkung steckenbleiben. Ulrich Clement: "Der Schreck kann heilsam sein. Und manche Affären können die Beziehung sogar vitalisieren."
Die Arbeitspraxis des Paartherapeuten zeigt: "Es gibt keine einfachen Antworten. Schon gar keine, die für jeden Fall passen würden."
Die Beziehungsarbeit ist mit vielen Gesprächen verbunden und aufwendig – aber sie lohnt sich. Partner*innen, die es geschafft haben, das Fremdgehen zu verzeihen und die Beziehung neu zu definieren, sprechen im Rückblick nicht selten von einem Weckruf und können mit etwas Abstand sogar dankbar für die Affäre sein.
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